Eine (neue) Ortsgeschichte
Warum feiern wir eigentlich 2022 das 775. „Ortsjubiläum“?
Die heute als Neuenkirchen verstandene politische Gemeinde war ursprünglich die Pfarrei Neuenkirchen – auch Kirchspiel genannt (von mittelniederdeutsch ker(k)spel). Darunter war im engen Wortsinn ein Gebiet zu verstehen, in dem der Pfarrer predigen und seine Amtspflichten ausüben durfte. Das Kirchspiel war ein vielgestaltiger Raum, der seine Mitglieder in einem (Kirchen-)Rechts-, einem Sozial- und einem Kulturverband vereinte und aus einer Reihe von Bauerschaften – Sutrum, Harum, Offlum, Snetwinkel und später Dorfbauerschaft – bestand. Die Pfarrei ist also als Keimzelle der späteren politischen Gemeinde Neuenkirchen verstehen.
Doch zum Kirchspiel bedurfte es einer eigenen Kirche. Von den Bewohnern der Bauerschaften, die damals noch zu Rheine gehörten, wurde lange Zeit ein Gotteshaus herbeigesehnt, wohl mindestens seit dem 11. Jahrhundert. Denn der Kirchenbesuch war wegen des weiten Weges mühsam und die wichtigen Sakramente konnte der Pfarrer wegen der großen Entfernungen häufig nicht mehr pünktlich spenden.
Im frühen 13. Jahrhundert erhielt die bäuerliche Bevölkerung dann trotz ihrer Stellung als religiösen Laien plötzlich erhebliche Mitspracherechte bei ihrem Anliegen, die eigene kirchliche Versorgung sicherzustellen – sozusagen eine auf dem Kirchenrecht basierende Möglichkeit sich „die Kirche ins Dorf zu holen“. Und diese Gelegenheit nutzten die Bewohner der ursprünglich Rheiner Bauerschaften Sutrum, Harum, Offlum und Snetwinkel. Nun ließ sich die eigene Pfarreigründung – sozusagen die Kirche „von unten“ – bei ihrem Bischof in Münster fordern. Nach dem Bau der ersten Kirche in den 1240er Jahren war es im Januar 1247 schließlich so weit: Eine Urkunde des münsterischen Bischofs legte die Gründung der Pfarrei Neuenkirchen fest. Und dieses Schriftstück ist das Vorbild für die Jubiläen, seit die Gemeinde 1947 erstmals beschloss, eine 700-Jahr-Feier zu veranstalten.
Historiker Sebastian Kreyenschulte© privatWarum ein neues Buch?
Jede Geschichte lässt sich aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln erzählen – und mit ganz verschiedenen Worten. Im neu erscheinenden Buch wurden dazu paarweise begriffliche Gegensätze gewählt: z.B. Verbinden & Begrenzen, Autonomie & Fremdbestimmung, Integration & Ausgrenzung, Erinnern & Vergessen. Entlang dieser und weiterer Wortpaare wird die Neuenkirchener Geschichte lebendig: Wer wissen möchte, welche Rolle die Kirche in der Vormoderne für die Einwohner spielte, wer wissen möchte wie die Bewohner Kriege und Krisen bewältigen oder wie die Neuenkirchener allmählich Rechte der Mitbestimmung an ihrem Kirchspiel und ihrer Gemeinde erhielten, für den ist das Buch ein Wegweiser in die Ortsgeschichte.
Das Buch führt in helle und dunkle Tage der Neuenkirchener Vergangenheit: in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges, auch in die des Nationalsozialismus‘, in Augenblicke großer Herausforderung wie der Aufnahme vieler Ostvertriebenen oder die Krise der Textilindustrie – und in Phasen großen Gemeinsinns z.B. durch das lebendige Vereinswesen. Zahlreiche neu entdeckte und ausgewertete Quellen und ihre Einbindung in die Theorien der historischen Wissenschaften sichern die Aktualität und thematische Vielfalt des neuen Buches, das zum Jahresende 2022 erscheinen wird.
Wer schreibt das Buch?
Die Geschichte erforscht und schreibt Sebastian Kreyenschulte, ein Historiker, der in Neuenkirchen aufgewachsen und mit dem Ort eng verbunden ist. Seit mehr als fünfzehn Jahren beschäftigt er sich mit allen Aspekten der Vergangenheit der Gemeinde. Einige Bücher und Texte sind von ihm über die Neuenkirchener bereits erschienen und veröffentlicht worden.